Abstract
Wie Jacques Derrida u. a. in Die Einsprachigkeit des Anderen oder Die ursprüngliche Prothese zeigt, ist jeder Mensch immer schon mehrsprachig. Wenn wir diesen Zustand der Nicht-Einsprachigkeit als ein allgemein-menschliches Phänomen begreifen, und dazu eignet sich die sogenannte exophone Literatur besonders, dann hilft uns das zu verstehen, dass das Fremd-Sein eines/einer Fremden zu befragen immer zugleich bedeutet, auch unser eigenes Fremd-Sein zu befragen, dann wird die Frage nach dem Fremden zur Frage der eigenen Identität. Um dies zu zeigen, lese ich Hamid Sadrs Gesprächszettel an Dora (1994) parallel zu und mit Derridas Konzept von Ein- und Mehrsprachigkeit. In dem ‚Roman‘ erfindet der Erzähler entlang von Egodokumenten seine Wahrheit über Franz Kafkas Sterben und widerspricht damit vielen Wissenschaftler- und Biograph_innen, die den Tod Kafkas als Konsequenz seines Dichterseins, seiner Zerrissenheit etc. interpretiert haben. Was uns die Dichterfigur entfremdet, ist dabei die Sprache selbst und zwar gerade die anscheinend authentischen Berichte, die, in Kombination mit den unzuverlässigen Erzählerstimmen die Konstruktion der Figur Kafka offenlegen. Der Kafka des Textes – der als K., als Kafka, als kavka auftritt, der im Erzählen als Kafka gesetzt, erschrieben wird, und zwar in jenen Worten, die die seinen sind, die ihm also vermeintlich vorangehen und doch, zugleich, folgen, sich (auch) als Nach-Schreiben entpuppen – wird wieder aufgelöst, wird fremd. Die Verwirrung der Grenzen von Ursache und Wirkung, Vorher und Nachher, Realität und Fiktion, das Sein zwischen Leben und Tod lässt die Kafka/K.-Figur zum Wanderer, zur Figur des Sowohl-alsauch werden. Das Fremd-Sein Kafkas, die Exilsituation in der Abgeschiedenheit des Sanatoriums sind dabei nicht allein Parabeln auf die Situation exiliert Lebender, wie Sadrs persönliche Lebenssituation nahelegte, sie sind darüber hinaus eine Metapher für menschliche Identitätsfindung generell.
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