Abstract
In seinem philosophischen Hauptwerk Masse und Macht suspendiert Elias Canetti die für die abendländische Metaphysik zentrale Differenz von Natur und Kultur, indem er im Anschluss an Friedrich Nietzsche das menschliche Verhältnis zur belebten und unbelebten Natur unter dem Begriff der Verwandlung diskutiert, der den dionysischen Prozess einer psychophysischen Meta- morphose bezeichnet. Die Verwandlung verbindet intensive Affekte, materielle Partikel und die freie Variation dichter Zeichen zu einem symbolischen Gefüge, das einen transversalen Kommunikations- und Austauschprozess zwischen dem menschlichen und animalischen Organismus anstößt. Dieses postanthropozentrische Erkenntnismodell entfaltet Canetti auf Basis einer phänomenologischen Annäherung an psychotische Grenzerfahrungen. Während er das schizoide Erleben intensiver Affektströme als ein paradigmatisches Beispiel für den gewaltfreien Austausch des Menschen mit der Natur betrachtet, erkennt er in den Krankheitsmustern der Paranoia die grundlegenden Strukturen der Macht wieder, die die Verwandlung zugunsten einer instrumentellen Beherrschung der Natur und der sozialen Interaktionen unterbinden. Die Paranoia der Macht ist für Canetti zugleich die Paranoia eines seit Aristoteles tief in der abendländischen Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte verankerten Rationalitätskonzepts, das das Menschliche in Abgrenzung zu der es umgebenden Natur zu definieren versucht.
Literaturhinweise
Adler, J. (2014). „Mensch oder Masse?“ H.G. Adler, Elias Canetti and the Crowd. In J. Adler & G. Dane (Hrsg.), Literatur und Anthropologie. H.G. Adler, Elias Canetti und Franz Baermann Steiner in London (S. 176-196). Göttingen: Wallstein.
Adorno, T. & Horkheimer, M. (2004). Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (15. Aufl.). Frankfurt a. M.: Fischer (Originalwerk veröffentlicht 1944).
Barnouw, D. (1975). Elias Canettis poetische Anthropologie. In H. Göpfert (Hrsg.), Canetti lesen. Erfah- rungen mit seinen Büchern (S. 11-31). München, Wien: Hanser.
Becker, P. (2015). Der neue Glaube an die Unsterblichkeit. Transhumanismus, Biotechnik und digitaler Kapitalismus. Wien: Passagen.
Bartl, A. & Schott, H.-J. (2014). Einführung. In A. Bartl & H.-J. Schott (Hrsg.), Naturgeschichte / Körpergedächtnis. Erkundungen einer kulturanthropologischen Denkfigur (S. 7-26). Würzburg: Königshausen & Neumann.
Bostrom, N. (2003). Ethical Issues in Advances Artificial Intelligence. Future of Humanity Institute, Oxford University. Abgerufen von https://nickbostrom.com/ethics/ai.html.
Braun, C. (2010). Die Stellung des Subjekts. Lacans Psychoanalyse (3. Aufl.). Berlin: Parodos.
Canetti, E. (1993). Die Provinz des Menschen. München, Wien: Hanser (Originalwerk veröffentlicht 1973).
Canetti, E. (1994). Masse und Macht. München, Wien: Hanser (Originalwerk veröffentlicht 1960).
Canetti, E. (1995a). Der Beruf des Dichters. In E. Canetti, Das Gewissen der Worte (S. 360-371). München, Wien: Hanser (Originalwerk veröffentlicht 1976).
Canetti, E. (1995b). Hermann Broch. Rede zum 50. Geburtstag. In E. Canetti, Das Gewissen der Worte (S. 99-112). München, Wien: Hanser (Originalwerk veröffentlicht 1936).
Canetti, E. (2004). Die Fliegenpein. Aufzeichnungen. München, Wien: Hanser 2004 (Originalwerk veröffentlicht 1992).
Canetti, E. (2014). Das Buch gegen den Tod. München, Wien: Hanser.
Canetti, E. & Adorno, T. (2005). Gespräch. In E. Canetti, Aufsätze, Reden, Gespräche (S. 140-163). München, Wien: Hanser (Originalwerk veröffentlicht 1962).
Cassidy, D. (1996). Werner Heisenberg und das Unbestimmtheitsprinzip. In W. Neuser & K. Neuser von Oettingen, Quantenphilosophie (S. 42-49). Heidelberg: Spektrum.
Cha, K.-H. (2010). Humanmimikry. Poetik der Evolution. München: Fink. DOI: https://doi.org/10.30965/9783846749944
Cha, K.-H. (2011). Darwinismus oder Hinduismus? Zu Elias Canettis orientalistischer Wissenschaftskritik im Entstehungskontext seiner Verwandlungslehre (mit Materialien aus dem Nachlass). Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 85 (4), 563-584. DOI: https://doi.org/10.1007/BF03375742
Deleuze, G. & Guattari, F. (1977). Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I (B. Schwibs, Übers.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp (Originalwerk veröffentlicht 1972).
Deleuze, G. & Guattari, F. (2005). Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie (G. Ricke & R. Voullié, Übers.) (6. Aufl.). Berlin: Merve (Originalwerk veröffentlicht 1980).
Deleuze, G. & Guattari, F. (2014). Kafka. Für eine kleine Literatur (B. Kroeber, Übers.) (9. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp (Originalwerk veröffentlicht 1975).
Derrida, J. (1976). Die Schrift und die Differenz (R. Gasché & U. Köppen, Übers.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp (Originalwerk veröffentlicht 1967).
Descartes, R. (1977). Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit den sämtlichen Einwänden und Erwiderungen (A. Buchenau, Übers.) (2. Aufl.). Hamburg: Meiner (Originalwerk veröffentlicht 1641).
Ettinger, R. (1989). Man into Superman. New York: Cryonic Institute (Originalwerk veröffentlicht 1972).
Fietz, R. (1994). Am Anfang ist Musik. Zur Musik- und Sprachsemiotik des frühen Nietzsche. In T. Borsche,
F. Gerratana & A. Venturelli (Hrsg.), „Centauren-Geburten.“ Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche (S. 144-166). New York: De Gruyter.
Friedrich, P. (1999). Die Rebellion der Masse im Textsystem. Die Sprache der Gegenwissenschaft in Elias Canettis. Masse und Macht. München: Fink.
Friedrich, P. (2008). Tod und Überleben. Elias Canettis poetische Anti-Thanatologie. In S. Lüdemann (Hrsg.), Der Überlebende und sein Doppel. Kulturwissenschaftliche Analysen zum Werk Elias Canettis (S. 215-245). Berlin, Freiburg, Wien: Rombach. DOI: https://doi.org/10.5771/9783968216683-215
Herbrechter, S. (2009). Posthumanismus. Eine kritische Einführung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Horkheimer, M. (2008). Zur Kritik der instrumentellen Vernunft (2. Aufl.). Frankfurt a. M.: Fischer (Originalwerk veröffentlicht 1947).
Husserl, E. (2012). Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Hamburg: Meiner (Originalwerk veröffentlicht 1936). DOI: https://doi.org/10.28937/978-3-7873-2260-2
Knoll, H. (1993). Das System Canetti. Zur Rekonstruktion eines Wirklichkeitsentwurfs. Stuttgart: Verlag für Wissenschaft und Forschung. DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-04194-4
Kroker, A. & Kroker, M. (1996). Hacking the Future. Geschichten für die fleischfressenden 90er & Kalifornischer Epilog. Wien. Passagen.
Krüger, O. (2019). Virtualität und Unsterblichkeit. Gott, Evolution und die Singularität im Post- und Transhumanismus (2. Aufl.). Freiburg i. Br.: Rombach. DOI: https://doi.org/10.5771/9783968216737
Lacan, J. (2006). Namen-des-Vaters (H.-D. Gondek, Übers.). Wien: Turia + Kant (Originalwerk veröffentlicht 2005).
Lacan, J. (2016). Das Seminar. Buch III (1955-1956). Die Psychosen (M. Turnheim, Übers.). Wien: Turia + Kant (Originalwerk veröffentlicht 1981).
Lyotard, J.-F. (2006). Das Inhumane (C. Pries, Übers.) (3. Aufl.). Wien: Passagen (Originalwerk veröffentlicht 1988).
Menke, C. (1995). Die Kunst des Fallens. Canettis Politik der Erkenntnis. In M. Krüger (Hrsg.), Einladung zur Verwandlung. Essays zu Elias Canettis Masse und Macht (S. 38-67). München, Wien: Hanser.
Neumann, G. (1988). Widerrufe des Sündenfalls. Beobachtungen zu Elias Canettis Aphoristik. In Hüter der Verwandlung. Beiträge zum Werk von Elias Canetti (S. 183-204). Frankfurt a. M.: Fischer.
Nietzsche, F. (2004). Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt. Kritische Studienausgabe. 7. Aufl. München: Dtv (Originalwerk veröffentlicht 1888).
Sandberg, A. & Bostrom, N. (2008). Whole Brain Emulation. A Roadmap. Technical Report #2008-3. Future of Humanity Institute, Oxford University. Abgerufen von http://www.fhi.ox.ac.uk/reports/2008-3.pdf.
Schott, H.-J. (2020). Der unteilbare Andere. Studien zur literarischen Reflexion psychotischer Grenzerfahrungen. Würzburg: Königshausen & Neumann.
Schüttpelz, E. (2014). Der Auszug aus Ägypten. Zum Vergleich der sozialtheoretischen Schriften von H.G. Steiner, Elias Canetti und Franz Baermann Steiner. In J. Adler & G. Dane, Literatur und Anth- ropologie. H.G. Adler, Elias Canetti und Franz Baermann Steiner in London (S. 158-175). Göttingen: Wallstein.
Timmermann, H. (1985). Tierisches in der Anthropologie und Poetik Elias Canettis mit Beispielen aus dem Gesamtwerk. Sprache im technischen Zeitalter, 23, 99-126.
Tipler, F. (1994). The Physics of Immortality. Modern Cosmology, God and the Resurrection of the Dead. New York: Doubleday.
Ziegler, R. (2016). Apeirontologie. Würzburg: Königshausen & Neumann.
Lizenz
Copyright (c) 2022 Hans-Joachim Schott
Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung - Keine Bearbeitungen 4.0 International.